1975 – Wir schreiben das Jahr 1 nach ABBAs triumphalem Eurovisions-Sieg. Der Grand Prix d’Eurovision war seiner Zeit ein richtiger Gassenhauer. Als Deutschland am 2. Februar 1975 sein „Lied für Stockholm“ suchte, da fand sich ein Teilnehmerfeld zusammen, das mit Fug und Recht als allererste Sahne bezeichnet werden kann. Als ich für die „Justice For“-Serie nach einer Perle suchte, die unverdientermaßen beim Vorentscheid nur die hinteren Ränge belegte, war dieser deutsche Vorentscheid eine wahre Fundgrube.
Hans-Otto Grünefeld vom damals zuständigen Hessischen Rundfunk beauftragte die Plattenfirmen geeignete Titel für den deutschen Vorentscheid am 2. Februar 1975 in Frankfurt einzureichen. Das damalige Line-Up hat vermutlich die Erwartungen der Eurovisions-Fans gar meilenweit übertroffen. Man muss sich das Starterfeld auf der Zunge zergehen lassen: Es trat an die Siegerin des ESC 1971 in Dublin (Severine) gegen die ESC-Drittplatzierte von 1970 und 1971 (Katja Ebstein) und auch die Drittplatzierte von 1972 (Mary Roos) wollte erneut das Grand Prix-Ticket lösen. Auch Österreichs ESC-Teilnehmer von 1967 Peter Horton (damals nannte er sich Peter Horten) warf seinen Hut in den Ring.
Dazu gesellten sich weitere Größen der Schlagerszene: wie z.B. Maggie Mae, die kurz zuvor mit „My Boy Lollipop“ auf Platz 1 der ZDF Hitparade gelandet war oder Marianne Rosenberg, deren Karriere sich gerade auf dem Höhepunkt befand. Auch Peggy March, die mit „Romeo und Julia“ und „Memories of Heidelberg“ zwei Top 5 Hits aus den deutschen Single-Charts vorzuweisen hatte, durfte nicht fehlen. Nicht zu vergessen natürlich Joy Fleming, die seiner Zeit mit ihrem „Neckarbrückenblues“ 1972 und ihrer souligen Stimme für ordentlich Furore sorgte.
Dieser erstklassigen Konkurrenz stellte sich auch der unvergessene und leider viel zu früh verstorbene Jürgen Marcus. Auch er befand sich gerade auf dem Höhepunkt seines musikalischen Schaffens. 1972 landete er mit „Eine neue Liebe ist wie ein neues Leben“ einen der Hits des Jahres und kletterte bis auf Platz 2 der deutschen Single Charts. Mit seinem Top 3 Hit „Ein Festival der Liebe“ etablierte er sich in der Beletage des deutschen Schlagers. Diverse weitere Top 10 und Top 20 Hits folgten 1973 und 1974 wie z.B. „Schmetterlinge können nicht weinen“ oder „Irgendwann kommt jeder Mal nach San Francisco“. 1975 strahlte das ZDF sogar seine eigene Personality-Show aus: „Jürgen Marcus: Einer für Viele“. Der ehemalige Betriebsschlosser war im Schlager-Olymp angekommen. Nur eine Grand-Prix-Teilnahme fehlte noch.
1975 sollte es dann soweit sein. Er hatte mit seinem Wettbewerbsbeitrag „Ein Lied zieht hinaus in die Welt“ eine richtige Hymne am Start. Der Song stammt aus der Feder von Jack White und Fred Jay. Jack White (ehemaliger Fußballspieler von TB Berlin, PSV Eindhoven) war bereits für seinen Hit „Eine neue Liebe ist wie ein neues Leben“ verantwortlich. 1974 hatte Jack anlässlich der WM in Deutschland den Kult-Hit „Fußball ist unser Leben“ geschrieben. Später produzierte er Welthits wie „Gloria“ oder „Self Control“. Fred Jay, ein österreichischer Schlagertexter, war u.a. durch „Es fährt ein Zug nach Nirgendwo“ bekannt.
Warum nun Justice for „Ein Lied zieht hinaus in die Welt“? Böse Zungen werden behaupten, das ist doch Schlager-Schmalz pur, aber ich liebe diesen hymnischen Aufbau des Songs. Es startet ruhig und baut sich langsam auf mit Textzeilen à la „Wir müssen einer dem Anderen viel mehr zur Seite stehen“. Zum Refrain werden dann alle Schlager-Register gezogen: der Beat wird schneller, es werden Glocken eingesetzt und der Song kommt schön in Schwung und animiert zum Mitwippen. Jürgen Marcus präsentierte den Song stimmlich einwandfrei und punktete mit seinem Charme beim deutschen Vorentscheid. Das Publikum schien ihn und den Song zu lieben.Mir ist es ein Rätsel wie dieser Song bei der Jury so durchfallen konnte. 90 Punkte und Platz 9 bei 15 Teilnehmern standen am Ende auf der Habenseite. Vielleicht liegt die schlechte Platzierung im damaligen sehr speziellen Voting-Modus begründet. Es gab 9 Städtejurys bestehend aus je 4 Juroren (1 Journalist, 1 Musiker, 1 Laie sowie 1 TV-Unterhaltungschef). Jeder Juror konnte maximal 5 Punkte vergeben. Die Einzelergebnisse wurden leider nicht veröffentlicht. D.h. Jürgen Marcus erhielt mit 90 Punkten im Schnitt 10 Punkte pro Städtejury, also 2,5 Punkte pro Juror. Das ist sehr mager. Aber Jürgen Marcus muss sich nicht grämen. Die Juroren verkannten auch das Potenzial von Marianne Rosenberg und „Er gehört zu mir“ (86 Punkte/Platz 10).
Ende gut alles gut. Das schwache Abschneiden beim Vorentscheid schadete dem Song keineswegs. Nach dem deutschen Vorentscheid am 2. Februar 1975 schaffte es der Song im März und April 1975 auf Platz 1 der ZDF Hitparade mit Dieter Thomas Heck und auch in den Musik-Charts klingelten die Kassen: Platz 3 in Deutschland, Platz 15 in Österreich und Platz 4 in der Schweiz! Schade, dass es für diesen Titel nicht zu einer Grand-Prix Teilnahme-gereicht hat.
Jürgen Marcus – Ein Lied zieht hinaus in die Welt
Den gesamten Deutschen Vorentscheid 1975 mit seiner hochkarätigen Besetzung kann man sich nochmal hier anschauen, inklusive der legendären Unterbrechung nach gut 31 Minuten direkt nach Mary Roos („Jetzt stehen wir alle im Dunkeln, aber ich bin sicher, es geht gleich weiter“).
Bisher erschienen:
Justice for Tina York: Unterbewertete Schätzchen aus deutschen ESC-Vorentscheiden
Justice for Veronika Fischer: Ein Saxophon für die Unendlichkeit
Justice for Sandy Derix: Kunterbunter Trennungsschlager à la Siegel
Justice for Linda Carriere: Kein Higher Ground für Soul aus dem Hause 3P